Betäubte Jugend

Etwa 700.000 besonders aktive, angeblich verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche in Deutschland werden mit Methylphenidat (Ritalin® u. a.) ruhiggestellt. Nach dem massiven Anstieg der Verordnungszahlen seit 20 Jahren wird die Stagnation der ärztlichen Verschreibungen 2013 als positives Signal gedeutet. Es deute endlich einen kritischen Umgang der Ärzte mit dem nebenwirkungsreichen Betäubungsmittel an, findet der Präsident des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn (BfArM), Professor Dr. Walter Schwerdtfeger. Doch er täuscht sich: Seit langem werden in Deutschland weniger und weniger Kinder geboren. Deshalb nimmt die verordnete Ritalinmenge in Kilogramm zwar vielleicht ab, aber nicht der relative Anteil ruhiggestellter Kinder (derzeit über 4 % aller Kinder und Jugendlichen!). Die chemische Zähmung besonders aufgeweckter Kinder ist eindeutig als Körperverletzung zu werten. Zappelphilippe hat es zu jeder Zeit gegeben, doch sie sind offensichtlich im heutigen Schulleben nicht mehr akzeptabel. Schon in der Grundschulzeit bis zu 6 Stunden stillsitzen, konzentrieren und mentale Leistungen vollbringen zu müssen, ist für diese Kinder ein Unding. Aber nicht, weil sie gestört oder krank sind, sondern schlicht, weil es nicht ihrem Naturell entspricht. Für die kulturelle Entwicklung der Menschheit braucht es nicht nur Dichter und Denker, sondern auch Macher, Tüftler, Abenteurer, zupackende Charaktere. Nur die Vielfalt bringt unsere Gesellschaft weiter. Wenn schon in der Frühzeit unserer Evolution alle unruhigen Geister gezähmt worden wären, säßen wir vermutlich immer noch in den Höhlen, weil die Denker wohl gute Pläne entworfen hätten, aber keiner die Ausführung in die Hand genommen und sich raus auf den Weg zu neuen Ufern getraut hätte.

Urheimische Antwort: Bewegung, Bewegung, Bewegung, also Fernseher und Playstation aus, runter vom Sofa und raus an die Luft! Gleichzeitig: das Schulsystem flexibler gestalten, um diesen Kindern die Möglichkeit eines sinnvollen Lernens zu geben. Das heißt, mehr Handwerkliches, mehr Bewegungspausen, weniger Frontalunterricht. Unmittelbare praktische Anwendung der Lerninhalte funktioniert hier wesentlich besser.

(BfArM 2014; Hjern A et al., Acta Paedriatrica 2010)