Eine moderne urheimische Weihnachtsgeschichte

Die Weihnachtsweihe ist ein bemerkenswerter Vogel. Sie hat einen ganz eigenen, entschleunigten Lebensstil und wird sehr alt. Ornithologen glauben, daß sie bis zu 130 Jahre lebt. Kaum ein Mensch hat sie je zu Gesicht bekommen, da sie nachtaktiv ist. Zudem zeigt sie ein merkwürdiges Zugverhalten. Etwa vierzig Jahre lebt sie in den Wäldern Skandinaviens nahe am Polarkreis bis ihr die langen Winter so aufs Gemüt schlagen, daß sie sich aufmacht und den Zug in den Süden antritt. Bei uns ist sie dann Ende Dezember auf der Durchreise, was auch den Namen erklärt. Die Weihnachtsweihen orientierten sich auf ihrem nächtlichen Flug an den Flüssen, auf deren Wasser sich der Mond spiegelte. Viele Jahrtausende fanden sie so sicher an das Mittelmeer, wo sie einen Sommer lang die Wärme genossen, bevor sie im nächsten Winter wieder zurück nach Norden zogen. Seit einigen Jahren aber wurde es für die Vögel immer schwieriger, ihren Weg zu finden, weil die Menschen in der Weihnachtszeit ihre Häuser mit einer Unzahl von Lichterketten verunzierten. Das fahle Glitzern des Mondlichtes auf den Flüssen war für sie nicht mehr zu erkennen, es ging in der unnatürlichen Illumination unter. Und die sich in der Dunkelheit bedrohlich drehenden Windkraftrotoren taten ein Übriges.

Eine einzelne Weihnachtsweihe, die schon ihre gesamten Reisebegleiter in den Windparks an der Küste verloren hatte, verirrte sich auch in dieser Nacht immer wieder. Zu Tode erschöpft landete sie am Rande eines Wäldchens und sammelte tagsüber neue Kräfte. Als sie am nächsten Abend weiterziehen wollte, bemerkte sie, wie ein Anwohner eines nahen Hauses Lichter im Garten anbrachte. Sie erhob sich von ihrem Ast und flog zu dem Haus. Dort setzte sie sich auf den Gartenzaun und blickte den Mann mit durchdringenden doch zugleich traurigen Augen an. Der Mann glaubte zu hören, wie eine wesenlose Stimme aus dem Dunkel der Nacht zu ihm sprach: „Warum nimmst Du mir das Mondlicht?“

Der Mann drehte sich um und sah, daß die Lichterketten das silberne Licht des Mondes, der gerade hinter dem Haus aufging, überstrahlten und nun begriff er. Da hörte er hinter sich das Schlagen großer Flügel und der mächtige Vogel schwang sich in das Dunkel, um seine Reise fortzusetzen. Der Mann aber schaltete die Lichterketten aus und ging in sein Haus. Er trat in die Küche und nahm sich ein Einmachglas. In dieses setzte er eine Kerze, stellte es auf das Fensterbrett und zündete die Kerze an. In dieser Nacht hatte er etwas gelernt.