Die Tugend der Mäßigung – Aus dem Mittelalter bis zur Urheimischen Diät

Hermann Sönksen war, anders als sonst üblich, schon vor dem Sonnenaufgang aufgestanden, denn er hatte sich viel für den Tag vorgenommen. Während die Menschen in der nahen Stadt ihren Tageslauf nach der Kirchturmuhr ausrichteten, hielt er es meistens mit der alten Weisheit „Met de Hehners upstohn un to Puuch gahn“ („Mit den Hühnern aufstehen und ins Bett gehen“). Seinen Tag nach einer „Uhr“ auszurichten, schien ihm fremd. Nach einer kurzen Wäsche trocknete er sich mit einem Lumpen ab und hüllte seinen sehnigen und muskulösen Körper in eine einfache Hose und Jacke aus grobem Leinenstoff, den seine Frau Helene während der Winterzeit selbst gewoben hatte. Den Flachs hatte sie im letzten Spätsommer geschnitten, die Pflanzen gedroschen, die Stengel gebrochen und zu Garn versponnen. Hermanns Magen begann wieder laut zu knurren. Der Winter war hart gewesen. Die Vorräte, die sie im letzten Herbst angelegt hatten, waren fast verbraucht. Von den vielen Krügen mit eingelegtem Sauerkraut waren nur noch wenige übrig. Auch die Dörrfrüchte, die Helene an der Sonne und auf dem Rost über der Feuerstelle gedörrt hatte, gingen zur Neige. Fleisch hatte es schon seit Wochen nicht mehr gegeben. Im Sommer war es ein Leichtes, im Wald ein paar Fallen aufzustellen und mit der Wilderei von Eichhörnchen oder Dachsen an ein wenig Fleisch zu gelangen. Aber jetzt im Spätwinter hielten sie noch Ruhe. Im Sommer hatte er von seinem Nachbarn, der eine Milchkuh hielt, immer etwas Milch und Molke im Tausch gegen gesammelten Wildhonig erhalten. Aber nun waren die Tauschwaren knapp geworden. Helene versuchte, durch Strecken der Lebensmittel wenigstens einmal am Tag eine warme Mahlzeit für sich und Hermann zuzubereiten. Aber irgendwann ist jede Suppe so verwässert, daß sie das Feuerholz nicht wert ist. Das Mehl des Roggens, den Hermann im letzten Sommer geerntet hatte, streckte Helene mit gemahlenen Quecken- und Beinwellwurzeln, die sie vor Monaten auf den Wiesen in der Umgebung gesammelt hatte. Aber selbst dieser Mehlersatz ging nun zur Neige. Hermann hatte sich deshalb entschlossen, in aller Frühe den kleinen Kotten zu verlassen, um sich auf die Suche nach etwas Eßbarem zu machen. Er wußte, unter welchen verbräunten Blattresten er graben mußte, um noch ein paar Wurzelstöcke zu finden. Und er wollte nach Feldahorn-Büschen Ausschau halten, aus deren Knospen Helene einen leicht süßlichen Brei herstellen würde. Hermann aß etwas vertrocknetes und schon leicht schimmeliges Brot, ein paar Bissen Sauerkraut und trank von einem Krug Wasser, bis sein Durst gestillt war. Seine Frau Helene betrat den einfach gehaltenen Raum, der fast nur durch die offene Feuerstelle beleuchtet wurde. Helene war von zierlicher Statur, aber auch sie hatte durch die tägliche harte Arbeit einen festen und gelenkigen Körper. Hermann sah sie an und dachte sich: „Si het ehn wunnerschön Figur hebben, doch nu is se drög wie ehn Bohnenstruck.“ („Sie hatte so eine schöne Figur, nun ist sie so dürr wie ein Bohnenstrauch.“). Sie ging die Diele hinunter und nahm den Holztrog, den sie seit zwei Nächten abgedeckt gelagert hatte. Sie begann, den Sauerteig zu kneten und zu Teiglingen zu formen, um diese dann in geflochtene Weidenkörbchen zu legen. Mittags, wenn der Ofen des Backhauses der Dorfgemeinschaft angeheizt werden würde, sollten ihre zwei Brote mit als erste in den Ofen geschoben werden. Hermann hatte sein Mahl beendet und seiner Frau zum Abschied auf die Stirn geküßt. Da es draußen noch sehr kalt war, zog er sich noch einen warmen Mantel über und machte sich mit dem kleinen Handwagen auf den Weg.

Auf dem Weg in den Wald kam er durch das Dorf, an dessen Rande sie lebten. Auf dem Platz, wo die Frauen mit Eimern am Brunnen anstanden und ein fliegender Händler Fisch anbot, wurde aufgeregt geredet. In der letzten Nacht war der Pastor im Alter von nur 53 Jahren gestorben. Seine letzten Jahre waren qualvoll gewesen. Von Fettleibigkeit geschlagen, aber trotzdem dem täglichen Braten, Bier und Messwein nicht abgeneigt, hatten ihm Gichtattacken immer öfter unsägliche Schmerzen bereitet. Aber nun hatte der Allmächtige ein Einsehen gehabt und sein fehlgeleitetes Gotteskind zu sich gerufen. „Gicht, woneem krieg mon det?“ („Gicht, woher bekommt man diese eigentlich?“), fragte sich Hermann. Er war jetzt 27 Jahre alt und niemals ernsthaft krank gewesen.

Der Gutsherr Ottfried von Hohenlütze war heute erst sehr spät aufgestanden. Der gestrige Abend war sehr lang geworden. Der Landvogt war zu Gast gewesen, und aus diesem Anlaß hatte es ein Bankett mit viel Wein und reichlich gesüßten Speisen gegeben. Ottfried hatte sich im Vorfeld nicht lumpen lassen und ein neues Eßbesteck aus vergoldetem Silber und feinste Porzellanteller in Italien kaufen lassen. Er wollte bei seinem Gast mächtig Eindruck hinterlassen. Nachdem er frisch gepudert war und sich angekleidet hatte, nahm er am Essenstisch Platz und rückte den Zinnteller zurecht, um sich das Frühstück munden zu lassen. Daraus wurde heute aber nichts. Mit einem stechenden Schmerz machte sich der Backenzahn bemerkbar, der sich schon vor Monaten schwärzlich verfärbt hatte. Auch machten ihm seit einigen Jahren die Knie- und Hüftgelenke Probleme. Der Medicus aus der nahen Stadt hatte ihm noch geraten, weniger Fleisch zu essen aber dafür mehr Gemüse, um die Körpersäfte günstig zu beeinflussen. Aber irgendwie wollte die vom Medicus als „Diaeta“ bezeichnete Änderung seiner Ernährung nicht recht fruchten. Die Schmerzen blieben seine treuen Begleiter. Er wollte sich Linderung durch Schonung verschaffen, aber das nützte nichts, sein tägliches Leben blieb von Schmerzen überschattet.

Hermann hatte sein Tagewerk fast vollbracht, den ganzen Tag hatte er im Niederwald Ahornknospen und auch etwas Feuerholz gesammelt und war in Feld und Flur auf der Suche nach eßbaren Wurzeln gewesen. Auf dem Weg zurück durch das Dorf kam er noch einmal am Stand des Händlers vorbei, wo er tatsächlich ein paar Leinenbeutel Ahornknospen gegen etwas Stockfisch und ein paar gesalzene Heringe eintauschen konnte. „Dor ward sik Helene hoegen!“ („Da wird sich Helene freuen!“), dachte er sich auf dem Nachhauseweg in der Dämmerung.

Als er die Diele betrat, sah er, wie Helene am Tisch saß, auf dem schon die kargen Zutaten für das Abendmahl lagen. Etwas getrockneter Löwenzahn und Wegwarte würden der Suppe die richtige Würze geben. Freudig zeigte er ihr die Früchte seiner Hände Arbeit: „Helene, hüüt ward dat endleech to de Supp ok Fisch geven!“ („Helene, heute wird es endlich auch etwas Fisch zur Suppe geben!“).